Monday, January 06, 2003

Europa braucht die Türkei (aus DIE ZEIT)

Auszüge aus einem interessanten ZEIT Artikel.

"Die Türken kennen die üblichen Argumente gegen sie, die widerstreitenden Positionen, die gehegten Vorurteile und gepflegten Ressentiments: West gegen Ost, Individuum gegen Umma, Selbstbestimmung gegen Scharia, Aufklärung gegen Dunkelheit, Menschenrecht gegen Gotteswort. Sie kennen die diffuse Islamfurcht und die in Europas kulturelles Gedächtnis eingesickerte Angst vor dem Wilden, Rohen, Fremden, den säbelschwingenden Osmanen ante portas, Wien 1683, sie kennen die versöhnungsresistenten Fronten im Ringen um eine Definition dessen, was gemeinsame Kultur sein könnte und was nicht. Der Konflikt, kurzum, gipfelt in der Frage: Können Islam und Christentum koexistieren, können ihre Lebensformen einander dulden?

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In einem Nu dann, in Ishak Alatons schnörkelloser Diktion, erhält die Frage der befürchteten Türkisierung Europas und der ersehnten Europäisierung der Türkei einen fast heiligen Ernst. „Europas Christen haben eine völlig falsche Vorstellung von der Türkei als einer vorrangig monolithisch muslimischen Einheit. Die Türkei ist in erster Linie multikulturell, dann republikanisch und zuletzt auch muslimisch. Es kümmert hier keinen, ob Frauen verschleiert oder in Miniröcken gehen oder Männer im Ramadan rauchen oder fasten. Jeder kann machen, was er will.“

Eben das ist beinahe tragisch: In der Tat konnte bisher in der Türkei nicht jeder machen, was er wollte. Aus Angst, die manche Phobie, andere Paranoia, dritte Irrsinn nennen, hat – in seiner Sehnsucht nach Verwestlichung – der türkische Staatsapparat im Namen der Zivilisation jede islamische Regung unterdrückt: Parteienverbot, Anklagewut, politischer Bann. Frauen ist es bis heute nicht erlaubt, Kopftuch in Schulen und Universitäten zu tragen oder im öffentlichen Dienst mit Kopfbedeckung zu arbeiten; die Verfassung verbietet die öffentliche Verwendung islamischer Anreden wie Hoca oder Effendi.

Jene, die für einen EU-Beitritt ihres Landes kämpfen, wissen, dass die Türkei noch nicht reif ist für Europa. Noch immer gibt es eine Willkürjustiz, allzu schnell anklagende Staatsanwälte, eigenmächtige Staatssicherheitsgerichte, Korruption. Noch immer spielt das Militär, selbst ernannter „Wächter der Demokratie“, eine aktive, unrühmliche, jedenfalls erhebliche Rolle im Staat. Noch immer werden Kinder in den Schulen nicht animiert, ihre Meinung zu äußern. Noch immer kursieren Berichte über Folter und systematische Unterdrückung politischer Opponenten, einfacher Krimineller, vor allem Kurden und auch Minderjähriger. Noch immer sind in ländlichen Gebieten Frauen in ihren Häusern eingesperrt, werden Mädchen gegen ihren Willen verheiratet. Und bis heute genießen türkische Polizisten den Ruf äußerster Brutalität.

Das alles soll sich, als groß angelegtes Plädoyer für die türkische Europareife, gleichsam aus dem Stand ändern. Ministerpräsident Abdullah Gül sagte nach seinem Amtsantritt Mitte November, seine Regierung werde die Europäische Union „mit der Umsetzung vieler Reformen schockieren“. Die Metamorphose hat bereits begonnen. Vergangenen August, unter der alten Mitte-links-Koalition Bülent Ecevits, hatte das türkische Parlament, ganz ohne Widerstand des Militärs, die so genannten Anpassungsgesetze an die EU verabschiedet und damit den „Kopenhagener Kriterien“ (freie Marktwirtschaft, Menschenrechtsschutz, Minderheitenregelung) ostentativ Folge geleistet, Ende November bereits legte die neue AKP-Regierung ein Paket von 36 Gesetzesänderungen nach. Das heißt: Abschaffung der Todesstrafe (auch in Kriegszeiten), Verbot der Folter, Ende der Straffreiheit von Polizisten, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, freier Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht und kurdische Rundfunkkanäle. Schon 2001 ist eine Zivilrechtsreform über die Bühne gegangen, die vor allem die rechtliche Stellung der Frau verbesserte. In Polizeischulen soll darüber hinaus künftig Menschenrechtsunterricht stattfinden, Ärzten, die falsche Gutachten ausstellen, droht der Approbationsentzug. Aus europäischer Sicht ist all das selbstverständlich, aus türkischer eine hoch emotionale Selbstverwandlung. Hat sich die Türkei auf einmal zu einem demokratischen Staat im westlichen Sinne gestanzt?

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Dilipaks Ausführungen heißen, zu Ende gedacht, dass bei einem Beitritt in die EU nicht die Türkei europäisiert, sondern Europa anatolisiert, an seine Wurzeln angeschlossen wird. Die Türkei, sagt Dilipak im Gehen, sei die letzte Chance für Europa, den erstarkenden Islam zu verstehen.

Was gewänne Europa mit der Türkei? Warum sollte man ein Volk mit vornehmlich ländlichen Strukturen, 40 verschiedenen ethnischen Identitäten und 20 verschiedenen Glaubensrichtungen als Teil einer neu zu schaffenden Identität begreifen? Man gewänne, sagen so unterschiedliche Geister wie Altan und Alaton, Dilipak und Dervi≠ gleichermaßen, neue Ideen, neue Menschenbilder, kulturelle Vielfalt; man gewänne die wertvolle Anbindung an die erstarkende islamische Gemeinschaft; man gewänne das in jeder Hinsicht bedeutsame Scharnier zum östlichen Teil der Einen Welt, die Pionierleistung einer islamischen Demokratie, als Signal an Iran, Syrien, Irak; hinzu kämen unschätzbare Gold-, Borax- und Ölressourcen. Eine europäische Türkei, so die Synthese, sei die beste Waffe gegen Angst vor dem extremistischen Islamismus.

„Sehen Sie nach Europa“, sagt Ilnur Cevik, der in England geborene Chefredakteur und Herausgeber der Turkish Daily News in Ankara, „die Gesellschaften sind im Begriff, ihre Normen zu verlieren, der christliche Glaube nimmt ja stetig ab, Werte wie Respekt vor den Alten oder der Familie verschwinden. Die Türkei könnte helfen, diese gemeinsamen Werte wieder zu stärken.“ Und über all die geostrategischen und polittaktischen Kalkulationen hinaus, heißt das schließlich, gewänne man das Östliche zurück, ohne welches das Westliche nicht denkbar ist."